Geschmack, geboren aus
Wind und Meer

Culinary and Pleasure

An den Ufern der Bucht von Mont-Saint-Michel in Cancale hat der französische Drei-Sterne-Koch Hugo Roellinger eine tiefe, fast spirituelle Verbindung zum Meer gefunden – im Le Coquillage, dem charaktervollen Restaurant des Boutique-Retreats Les Maisons de Bricourt. Doch es ist nicht das postkartenreife Meer der Klischees, das ihn inspiriert – sondern ein wildes, atmendes Wesen: unberechenbar, ungezähmt, voller Leben. Eine Naturgewalt, die er gelernt hat, zu beherrschen – sowohl in der Küche als auch auf den Wellen.

Hugo Roellinger hat kein Restaurant geerbt, sondern einen Kompass – eine ganz eigene Art, die Welt zu lesen.

(Seafood)

Im Le Coquillage anzukommen fühlt sich an, als würde man direkt an der bretonischen Küste stehen – begleitet von der salzigen Brise und angezogen von der magnetischen Anziehungskraft der Gezeiten. Mit dem endlosen Horizont vor Augen erhebt sich die herrschaftliche Villa – heute Teil der Relais & Châteaux-Familie – als Rückzugsort und Aussichtspunkt zugleich. Hier, in Saint-Méloir-des-Ondes – was nicht zufällig „Saint-Méloir der Wellen“ bedeutet – beginnt alles mit dem Meer, und kehrt unweigerlich dorthin zurück.

Hugo Roellinger hat kein Restaurant geerbt, sondern einen Kompass, eine besondere Art, die Welt zu lesen. Als seine Eltern, Jane und Olivier Roellinger, das inmitten einer sieben Hektar großen Landschaft gelegene Anwesen erwarben, planten sie zwölf Zimmer, ein Restaurant und eine Konstellation von Gärten, die im Laufe der Zeit nach und nach Gestalt annahmen. Heute gibt es einen keltischen Gemüsegarten, einen Obstgarten, ein Gewächshaus und das Champ du Vent – das Feld des Windes –, in dem mehr als siebzig verschiedene Obst-, Gemüse-, Blumen- und Kräutersorten wachsen, die weder mit chemischen Mitteln noch mit Pestiziden behandelt werden. Die Gäste sind eingeladen, vor oder nach dem Essen über das Gelände zu schlendern – ein Erlebnis, das sich ganz natürlich von der Erde bis auf den Teller erstreckt. Fernab von standardisierten Gesten und üblicher Hotelkonventionen ist der Empfang hier herzlich und dieses familiäre Maison unverkennbar besonders.

 

Château Richeux, liebevoll „Die Ruhe in der Morgendämmerung“ genannt, wacht über die Bucht von Mont-Saint-Michel.

Vom Bogenfenster des Restaurants aus erstreckt sich das Meer, majestätisch und hypnotisierend. Es ist mehr als nur eine Kulisse: Es gibt den Rhythmus des Speisesaals vor und inspiriert die Küche. Das Eau de Vie, ein kalter Seetangaufguss, der als Vorspeise serviert wird, ist wie „die erste Note einer Opernpartitur, die den Ton angibt“.

„Aus diesem ‘Meerwasser’“, erklärt Hugo Roellinger, „kreiere ich meine Küche.“ Flüssigkeit wird zum Sensor, zum unsichtbaren Faden, der alles Lebendige verbindet – auf dem Teller wie im Meer. Als leidenschaftlicher Surfer und Kite-Surfer träumte Roellinger einst von einem Leben auf See bei der Handelsmarine, bevor ihn das Familienunternehmen zurückholte. Aufgewachsen inmitten von tosenden Wellen, würziger Luft und dem Ruf des offenen Meeres, entschied er sich, all das in seiner Küche zum Ausdruck zu bringen – durch seine Gerichte.

Roellinger, der bei Michel Bras, Pierre Gagnaire, Michel Guérard und der Familie Troisgros gelernt hat, imitiert nicht das Drei-Sterne-Erbe seines Vaters.Verwurzelt in diesem schöpferischen Kosmos folgt er seinem eigenen Kurs – im Einklang mit dem Meer, dem Wind, dem Rhythmus des Mondes und der bretonischen Erde, die vom Geist der Kelten durchdrungen ist. Sein neuestes Buch, Correspondances, zeichnet die Resonanzen zwischen Küche und Landschaft, zwischen Mensch und Natur, zwischen Armor und Argoat, Meer und Wald nach. Das Buch ist eine Sammlung von Gesprächen, die von der poetischen Hand der Schriftstellerin Ryoko Sekiguchi transkribiert wurden. Es ist auch „eine Ode an die lange Zeit, an den Rhythmus der Jahreszeiten, an die ruhige Entfaltung der Tage, eine sanfte Ablehnung der Eile“.

„Am Anfang von allem steht eine Flüssigkeit – meine erste Zutat. Flüssigkeit ist horizontal. Sie kennt keine Hierarchie und lädt alle Dinge zum Austausch ein. Aus diesem lebendigen Wasser schaffe ich meine Küche.“

In Vent de Lune, einem von den Gezeiten und der Anziehungskraft des Mondes inspirierten Dessert, bringt eine Granita aus Gewürzen – Safran und Tagetes – ein Rhabarbercoulis in Schwingung. Meer, Luft und Flora vermischen sich in einem Gericht, das so leicht und fließend ist wie eine sanfte Welle.

Nach seiner Entscheidung, Fleisch von der Speisekarte zu streichen, entdeckte Roellinger neue Facetten in Brühen und Soßen, indem er in die Speisekammer des Meeres eintauchte und die Texturen, Aromen und Vorzüge von Seetang erforschte. Diese sind nun „das Rückgrat einer maritimen Gartenküche, mal subtil, mal lebhaft mit der Wärme von Gewürzen“. Als lebendige Erinnerung an die Familie sind die Roellinger-Gewürze diskret und doch allgegenwärtig – verwurzelt im Erbe seines Vaters, der in Saint-Malo geboren wurde, dem Heimathafen großer Seefahrer, die den Ozeanen trotzten und mit duftenden Schätzen beladen zurückkehrten. Heute kümmert sich Hugos Schwester Mathilde um diese sensorische Bibliothek und reist zu den schönsten Gärten der Welt. Diese Gewürze dominieren die Küche von Roellinger aber nicht, sie akzentuieren, verstärken oder erweitern sie – wie der Frühlings-Sansho, dessen prickelnde Frische von Rosen und Makrelen begleitet wird. Manchmal vermischen sich Geschmack und Symbolik, ein Pfeffer wegen seiner Schärfe, eine Blume wegen ihrer Zerbrechlichkeit, beide geschützt durch ihre Dornen.

Flüssigkeit wird zum Sensor, zu einem unsichtbaren Faden, der alles Lebendige verbindet – auf dem Teller wie im Ozean.

Im Einklang mit den Jahreszeiten und den lokalen Ressourcen setzt sich Hugo Roellinger für die Vielfalt ein und widersetzt sich damit dem strengen Lokalkolorit. „Wie die Natur entwickelt sich auch die Küche ständig weiter und eröffnet einen Dialog mit anderen Zeiten und Zivilisationen. Und so wie sich Kulturen auf dem Teller vermischen können, können auch Gärten das aufnehmen, was von anderswo kommt.“ Roellinger, der immer neugierig war, hat zweiundzwanzig Quittensorten gepflanzt und den Obstgarten in eines der größten Konservatorien Europas verwandelt. Ob in einer Vinaigrette, in Öl oder in einem zarten, ungesüßten Dessert: Die Quitte ist für ihn eine unterschätzte Frucht, anspruchsvoll und doch außergewöhnlich.

Getreu seiner Überzeugung holt der Küchenchef seine Crew an Bord – Landwirt:innen, Fischer:innen, Sammler:innen, Austernzüchter:innen und Landschaftsgärtner:innen –, die seit langem mit dem gleichen Engagement an seiner Seite arbeiten. „Über alle Unterschiede hinweg“, sagt er, „muss die Küche eine Botschaft des Friedens vermitteln – mit der Erde, mit dem Meer und zwischen den Menschen.“

Der Zauber von Le Coquillage liegt auch im Blick: Aus dem Speisesaal erhebt sich Mont-Saint-Michel am Horizont – ein tägliches Wunder für die Gäste.
Text
Juliette Sebille
Fotografie
Anne Claire Héraud

Romain Bassenne
(Alle anzeigen)
Meine Liste
Read (0)
Watch (0)
Listen (0)
Keine Stories